Warum Sammler lieber neue als alte Kunst kaufen

Published: June, 2014, WELT AM SONNTAG
GEORGE CONDO, THREE FIGURES IN A GARDEN, 2006
GEORGE CONDO, THREE FIGURES IN A GARDEN, 2006

Vor ein paar Wochen rief mich mein alter Freund B. an und fragte mich, ob ich ihn nicht in New York besuchen wolle, um mir ein paar Gemälde anzusehen, die man ihm angeboten habe. B., der eigentlich keine Kunst sammelt, war aber doch elektrisiert, denn es handelte sich um ein ganz besonderes Angebot: einen Rembrandt und einige Werke von Degas. Vorsichtig versuchte ich B. zu erklären, dass ich erstens auf zeitgenössische Kunst spezialisiert bin und dass es zweitens – und viel entscheidender – ein kompliziertes Unterfangen ist, herauszufinden, ob ein vermeintlicher Rembrandt auch wirklich ein echter ist, selbst wenn er so aussieht. Ich sagte ihm, dass ein Rembrandt-Spezialist zunächst einmal Farb- und Leinwandproben nehmen würde, um zu analysieren, ob es sich dabei um Pigmente und Fasern handelte, die im 17. Jahrhundert verwendet wurden. Dass man dem Rahmen mittels Kohlenstoffdatierung zu Leibe rücken und mit Röntgenstrahlen nach Unterzeichnungen unter den Farbschichten fahnden würde.

Selbst wenn sich das Gemälde zweifelsfrei als Original aus der Zeit herausgestellt hätte, bestünde die Möglichkeit, dass es eine Arbeit aus Rembrandts Werkstatt sein könnte oder die eines Schülers, was eine große Auswirkung auf den Wert hätte. Der Spezialist würde natürlich auch noch prüfen, ob das Gemälde in der relevanten Literatur über Rembrandt oder in Katalogen auftaucht, was viel Zeit und Energie verschlingt. Die größte aller Fragen wäre aber, warum ein Besitzer eines Rembrandts diesen ausgerechnet dem unerfahrenen B. anbieten würde, statt das Bild einem Auktionshaus oder einem Kunsthändler mit entsprechender Expertise zu offerieren, die sicherlich den bestmöglichen Preis erzielen könnten.

Das ist einer der Gründe, warum das Sammeln von zeitgenössischer Kunst so viel einfacher ist als das Sammeln von älterer Kunst. Es wird kaum solche Probleme bereiten bezüglich Zuschreibungen oder Fälschungen, die den Kunstmarkt von Zeit zu Zeit heimsuchen. Erst kürzlich wurde aufgedeckt, dass die renommierte New Yorker Knoedler Gallery ihren Kunden systematisch millionenschwere, aber gefälschte Rothkos und Pollocks angedreht hatte, die frisch aus den Ateliers chinesischer Immigranten in Brooklyn kamen.

Auch der deutsche Fälscher Wolfgang Beltracchi war sehr erfolgreich in der Veräußerung selbstgemalter Bilder von Ernst, Picasso und Léger gewesen. Wiederholte Fälschungsfälle und ihre rechtlichen Konsequenzen machen es überdies äußerst schwer, Sachverständige zu finden, die überhaupt noch die Echtheit eines Werks garantieren würden. Um die Sache noch vertrackter zu machen: Historische Arbeiten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg können sich als Raubkunst herausstellen, wie der Fall Gurlitt bewiesen hat.

Erklärt das aber hinreichend die momentane Popularität zeitgenössischer Kunst bei den Sammlern? Nicht wirklich. Der Kunstmarkt war immer schon voller Fälschungen und Raubkunst, aber das hat die Käufer nie veranlasst, sich so sehr der eigenen Zeit zuzuwenden wie es momentan der Fall ist. Im neuen Jahrtausend hat sich die zeitgenössische Kunst zweifelsohne gegenüber allen anderen Perioden durchgesetzt. Während 2003 der Auktionswert von Nachkriegs- und Gegenwartskunst noch bei 593 Millionen Euro gegenüber 613 Millionen für Impressionisten und Postimpressionisten zurücklag, betrug 2013 der Umsatz 4,943 Milliarden für Nachkriegskunst gegenüber 1,363 Milliarden für Impressionisten. Genauso verhält es sich mit Alten Meistern und Moderner Kunst, die sich plötzlich im Schatten gerade erst produzierter Kunst wiederfanden. Während 2003 Alte Meister 427 Millionen Euro umsetzten gegenüber 593 Millionen für die Nachkriegs- und Zeitgenössische Kunst, wuchs der Umsatz 2013 auf 1,034 Milliarden bzw. 4,943 Milliarden. Der Umsatz von Moderner Kunst lag 2003 bei 751 Millionen gegenüber 593 Millionen, 2013 balancierte man schon in der Höhe von 3,158 Milliarden gegenüber 4,943 Milliarden. 2013 war zeitgenössische und Nachkriegskunst das größte Marktsegment: 46 Prozent gemessen am Wert und 44 Prozent am gesamten Umfang. Die Auktionswoche zeitgenössischer Kunst im Mai 2013 schloss mit beispiellosen 1,5 Milliarden US-Dollar.

War das Sammeln von Kunst der eigenen Zeit früher ein marginales Phänomen,ist die neue Popularität mindestens erstaunlich. Was macht zeitgenössische Kunst heute also so anziehend und gereicht den historischen Werken zum Nachteil? Gewiss markiert die Verfügbarkeit der Werke einen der Hauptgründe. Der zeitgenössische Kunstbetrieb ermöglicht den permanenten Nachschub neuer Künstler und neuer Kunstobjekte mit einem Potenzial hoher Qualität, wohingegen herausragende Werke früherer Zeiten limitiert sind.

Obwohl wir noch nicht wissen wer es ist, der nächste Warhol ist schon unter uns und der unter den Sammlern der ihn oder sie entdeckt, wird sowohl von der kulturellen Bedeutung profitieren als auch von dem finanziellen Wert der Werke. Im Gegensatz dazu wird die Bedeutung von Künstlern aus Renaissance, Barock und Impressionismus sich am Konsens des kunsthistorischen Kanons messen lassen müssen. Das macht es schwer, ambitionierte Sammlungen von Kunst aus den historisch ausführlich beschriebenen Epochen aufzubauen. Die besten Arbeiten des 17. oder 19. Jahrhunderts hängen in privaten oder öffentlichen Sammlungen, werden dort gehegt und gepflegt und kommen nur sporadisch in den Handel. Wenn, dann erzielen sie Höchstpreise, wie etwa das Beispiel „The Players“ von Cézanne zeigt. Gerüchten nach hat ein Käufer aus Katar dafür 250 Mio. US-Dollar bezahlt. Das gilt aber nur für spezifische Werke, wie die Christie’s-Auktion vergangene Woche zeigte: 20 von 60 Losen blieben unverkauft, u. a. hoch taxierte Werke von Mondrian und Giacometti.

Die begrenzte Verfügbarkeit von was als Meisterwerken betrachtet wird, kann man als Erklärung für das mangelnde Interesse am Sammeln historischer Arbeiten ansehen. Das Preisargument jedenfalls überzeugt nicht völlig seit die zeitgenössische Kunst alle Rekorde bricht und die anderen Meister weit hinter sich lässt. Zahlreiche Beispiele belegen das: Gerhard Richters „Domplatz, Mailand“ verkauft für 28 Mio. Euro, Jeff Koons’ „Balloon Dog“ für 39 Mio. Euro, nicht zu erwähnen die Werke von jungen Künstlern wie Tauba Auerbach (geb. 1981), die im Mai letzten Jahres 1,3 Mio. Euro erreichte. Die Arbeiten die mehr als eine Million erzielen sind nicht mehr nur sporadische Zufälle sondern regelmäßige Vorfälle während der Auktionen in New York oder London. Mit diesen Summen könnte man große Sammlungen von Werken weniger bekannten holländischen Meister aufbauen, von Raritäten, romantischen Malern oder hervorragenden afrikanischen Masken. Ein Auktionator erklärte vor kurzem, dass es einfacher ist, einen guten Brueghel als einen guten Peter Doig zu finden.

Deshalb kann man die Popularität zeitgenössischer Kunst nicht allein aus dem Licht der Seltenheit historischer Werke erklären. Dieser Aspekt ist sicherlich von Einfluss, aber nur in Kombination mit anderen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren. Für viele Sammler, große und kleine, bringt das Sammeln zeitgenössischer Kunst eine Form gesellschaftlichen Lebens mit sich, mit einem vollen Kalender internationaler Feierlichkeiten, wie Kunstmessen, Biennalen, Ausstellungseröffnungen, Besuchen von anderen Sammlern und Begegnungen mit Künstlern. „Die Kunst ist großartig, aber wirklich großartig sind die Menschen“, sagte ein amerikanischer Sammler. „Du gehst überall hin auf der Welt und triffst Freunde.“ Zeitgenössische Kunst ist wie eine Sprache: „Wenn Sie Menschen treffen, die sammeln, sprechen Sie die gleiche Sprache, auch wenn Sie aus Berlin sind und jemand anders aus Alaska kommt.“

Zusammen mit der Idee von einer „Universalsprache“ bietet die Welt der zeitgenössischen Kunst Exklusivität und Glamour. Kunstmessen wie die Art Basel organisieren Vor-Vorschauen und Vor-Vor-Vorschauen, je nach Status des Sammlers. Die Messen sind Ereignisse par excellence, um Wohlstand und sozialen Erfolg anzuzeigen. Da nicht alle Kunstwerke für jedermann zugänglich sind – selbst wenn man den Preis zu zahlen bereit wäre – korrespondiert der Zugang zu den Werken, die stark nachgefragt sind, mit dem Sozialprestige eines Sammlers und seiner Stellung in der Welt der Kunst und außerhalb. Eine Welt, der viele angehören wollen.

Gleichzeitig begeistern die atemberaubenden Resultate auch neue Käufer, einige von ihnen lockt die Kunst als Investment oder Spekulationsobjekt. Wirklich attraktiv macht die zeitgenössische Kunst aber die Gelegenheit die Kunstgeschichte zu beeinflussen und eigenständige Werte zu kreieren.

Weil die zeitgenössische Kunst Zugang zu unserer eigenen Kultur ermöglicht, die Medien unserer Zeit nutzt und sich mit aktuell relevanten Fragen auseinandersetzt, kann man sich so leicht mit ihr identifizieren. Sammler können direkt mit den Künstlern sprechen, ohne sich über Kunstgeschichte oder Kunsttheorie verständigen zu müssen. Wenn die Sammler überzeugt von bestimmten Künstlern sind, können sie dazu beitragen ihre Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit zu erhöhen. Das neue Jahrtausend hat einen explosiven Zuwachs an Privatmuseen und Kunsträumen erlebt: 166 neue private museale Räume wurden ab 2000 für das Publikum eröffnet.

Ein privates Museum ermöglicht zweifelsfrei größere Freiheiten an der eigenen Erzählung zu arbeiten als eine Museumsinstitution. Neben künstlerischen Aufgaben müssen letztere historische Verantwortlichkeiten übernehmen, gemäß ihrer öffentlichen Funktion. Privatmuseen können subjektive Entscheidungen treffen und traditionelle Herangehensweisen an die Kunst herausfordern. Die US-amerikanische Sammlerin Rosa de la Cruz unterscheidet private und öffentliche Museen so: Vergangenheit versus Zukunft, Tempo versus Schwerfälligkeit. Ihrer Meinung nach sind private Sammler in der Lage, schnell zu handeln und Risiken einzugehen, während die öffentlichen Museen sich mehr mit Naturschutz als mit konservatorischen Fragen befassen als dem Verständnis der Gegenwart.

Wenn es um den Erwerb von Kunstwerken geht, können Privatsammler mit öffentlichen Museen, deren Budgets kontinuierlich schrumpfen, mehr als konkurrieren. Während manche Sammler Museumskuratoren einladen, Ausstellungen zu organisieren und somit versuchen, am kunstgeschichtlichen Diskurs teilzuhaben, bemühen sich andere Sammler darum, Kunst zu kaufen, die von den Institutionen (noch) nicht als relevant erachtet wird. Dank der Sichtbarkeit und des Prestiges einer Sammlung, kann der Sammler die Relevanz eines Künstlers sogar erhöhen, wohingegen sich die Bedeutung historischer Werke immer am kunsthistorischen Diskurs bemisst. In der Welt der zeitgenössischen Kunst dürfen diese Regeln auch schon mal gebrochen und kritische Rezeption auch schon mal ignoriert werden. Die Karriere von Damien Hirst statuiert dieses Phänomen als Exempel: Er bekam seine erste Einzelausstellung in einem Museum erst 2012, nachdem er über 20 Jahre lang äußerst erfolgreich bei Privatsammlern war. Sammler sind in der Lage Künstler zu „machen“, indem sie Auktionshäuser regelrecht benutzen und mit Museen kooperieren, da sie ihre qualitative Urteilskraft nicht mit einem dominanten theoretischen Bezugssystem zu untermauern brauchen.

Zurzeit spürt man die Entstehung eines neuen Kunstkanons, der nicht mehr einer einzigen Autorität gehorcht. Die zeitgenössische Kunst und Künstler wird heutzutage teilweise durch die öffentliche Präsenz – in Institutionen wie in privaten Sammlungen – kulturell valorisiert. Die wachsende Zahl von Privatmuseen hat insgeheim angefangen mit den öffentlichen Häusern in einen Wettbewerb zu treten, nicht nur hinsichtlich der Anschaffung von Kunstwerken, sondern auch in der Formulierung eines sich wandelnden Künstlerischen Kanons.